Über 100 Nachbar_innen kamen bei der Videokundgebung
am 2. Oktober vor der Reichenberger Strasse 114 zusammen und tauschten ihre Informationen, Sorgen und Erfahrungen aus.
Hunderte Passant_innen nahmen Flyer mit, die über den aktuellen Stand im
Kiez informieren. Gezeigt wurden Clips zur Zwangsräumung in der Reichenberger Str. 73 im März 2014 und der Dokumentarfilm "
Mietrebellen".
About 100 neighbors gathered on October 2 at the video demonstration in front of Reichenberger 114 and shared their information, concerns and experiences regarding gentrification and expulsion. Hundreds of pedestrians took interest in flyer informing on the current status in the neighborhood. Video clips on the forced eviction in the Reichenberger Str. 73 in March 2014 and the documentary "Mietrebellen" were shown.
Wir dokumentieren hier den Redebeitrag zur
Videokundgebung gegen Verdrängung am 2. Oktober 2014:
"Am Abschnitt Reichenberger Straße zwischen Forster und Liegnitzer Straße
lassen sich exemplarisch drei Verdrängungspraktiken thematisieren, die
vielen Menschen hier im Kiez und stadtweit massive Probleme bereiten:
1. Aggressiver Austausch langjähriger Mieter_innen durch zahlungskräftige Neumieter_innen
Das Haus Reichenberger Str. 73 gehört der Familie Brenning. Ernst
Brenning, CDU-Politiker, Alter Herr einer Burschenschaft und Notar
betreibt seit Jahren den Rausschmiss seiner langjährigen Mieterschaft.
Auf die Spitze trieb er es mit der Zwangsräumung einer fünfköpfigen
Familie aus der Wohnung im Vorderhaus rechts 1. Stock, direkt über der
Pizzeria, am 27. März diesen Jahres.
Brenning klagte über Jahre hinweg gegen diese Familie mit immer wieder
neuen fadenscheinige Beschuldigungen. Er verlor. Aber er klagte weiter
bis er irgendwann auf eine Richterin stieß, die ihm eine an den Haaren
herbeigezogene Schutzgelderpressung durchgehen ließ. Die
Pizzeriabetreiberin, eine ehemalige Hauswartsfrau der Brennings,
arbeitete ihm dabei naiv oder mutwillig zu und trug so letztlich mit zur
Räumung bei.
Obwohl der Prozess um die Kündigung der Wohnung noch nicht abgeschlossen
ist, konnte Brenning die Familie räumen lassen. Bei der Räumung
solidarisierten sich viele Nachbar_innen mit der Familie und bildeten
eine Blockade am Hauseingang. Doch Brenning beantwortete die Solidarität
der Nachbar_innen mit einem brutalen Polizeieinsatz. Nach der Räumung
und bei der Demo zwei Tage später nahm die Polizei bis zu 15 Menschen
fest. Der erste Repressionsprozess gegen Eine der Festgenommenen hat
inzwischen begonnen, wurde aber auf Mitte Oktober vertagt, weil der
geladene Zeuge – ein Polizist – nicht erschienen war. Dass ihn nun eine
Geldstrafe von 150 € oder 3 Tagen Knast erwarten, ist nur ein geringer
Trost, denn die Anschuldigung wegen Beleidigung ist noch nicht vom
Tisch. Die Anklage wegen Widerstands wurde dagegen bereits
fallengelassen. Wir fordern, dass auch alle anderen Anklagen fallengelassen werden und keine Zwangsräumungen mehr durchgeführt werden!
Der Berufungsprozess der zwangsgeräumten Familie ist nach wie vor offen.
D. h. bis heute ist noch nicht geklärt, ob die Familie überhaupt hätte
ausziehen müssen. Dass das Landgericht die Berufung angenommen hat,
zeigt zumindest deutliche Zweifel, dass das Räumungsurteil des
Amtsgerichts rechtsgültig ist. Die Berufung wird am 3. Dezember um
10:45 Uhr am Landgericht, in der Littenstraße 12-17 in Mitte, 3. Stock,
Raum 3807 verhandelt. Doch Brenning hat sein Ziel schon jetzt
erreicht: die Wohnung ist für die Familie verloren und er konnte sie
teurer neu vermieten.
Und genau das ist Brennings Masche: Mieter_innen mit allen Mitteln raus
klagen und raus ekeln und die Wohnungen dann teurer neu vermieten. Eine
Wohnung im Dachgeschoss des Hinterhauses wurde vor einigen Jahren auf
Eigenbedarf gekündigt. Eine kinderreiche Familie musste ausziehen. Vor
kurzem wurde diese Wohnung auf Immonet zum Preis von fast 2.000,- €
Miete monatlich angeboten. Luxusmodernisiert mit Parkett, zwei Bädern
mit Schiefer und Marmor ausgestattet, Tropical Rain – Wellness Dusche
und Bidet. Und das ganze in einer angeblich netten Hausgemeinschaft im
reizvollen Reichenberger-Kiez. Bevor Brenning seine aggressive
Entmietung betrieb, war die Hausgemeinschaft tatsächlich nett. Es ist
mehr als schäbig, dass Brenning seine langjährigen Mieter_innen drei Mal
verheizt: erst zockt er sie ab, dann schmeißt er sie raus und dann
vermarktet er sie noch als wertsteigernde Etikette. Schäm dich Brenning!
Wir fordern alle Wohnungssuchenden auf sich zu informieren, wie die Wohnungen frei geworden sind, in die sie einziehen wollen!
Hier im Kiez wollte bis vor kurzem niemand wohnen, der Wert auf eine
vorzeigbare Wohnadresse legte. Jetzt werden immer wieder Mieter_innen
durch Zwangsräumungen oder andere Schikanen aus ihren Wohnungen
gedrängt, weil dieser Kiez inzwischen angesagt ist und die Eigentümer
wesentlich höhere Mieten bei Neuverträgen verlangen können. Jedem
Neumieter sollte bewusst sein: Eine Wohnung hier ist selten einfach so
zufällig leer! Oft wurden die langjährigen Mieter_innen aggressiv aus
ihnen verdrängt! Wie soll eine angenehme Nachbarschaft unter diesen
Voraussetzungen möglich sein?
2. Vertreibung des langjährigen Kleingewerbes
Der Edeka an der Ecke Reichenberger/Forsterstraße wird zum 25. Oktober
schließen. Die Filiale wird aufgelöst, denn der Gewerbemietvertrag wurde
nicht verlängert und der Betreiber konnte im näheren Umfeld keine
bezahlbaren neuen Räume finden. Die Vermieter-Eigentümer planen die
Räume in drei separate Einheiten aufzuteilen und einzeln neu zu
vermieten. Dabei ist dieser Edeka seit Jahrzehnten die tägliche
Einkaufsadresse für mehrere tausend Anwohner_innen. Nun muss er
schließen. Ein Stück Kiez geht mit ihm verloren und alte, in ihrer
Mobilität eingeschränkte Menschen müssen länger Wege und ein anonymes
Supermarkteinkaufen auf sich nehmen.
Doch der Edeka ist kein Einzelfall. Ein paar Ecken weiter an der
Reichenberger/Lausitzerstraße hat erst vor kurzem ein Kiosk und Späti
geschlossen. Neuvermietet wurden die Räume an eine Bürogemeinschaft. Und
auch von Kiosken hier wissen wir, dass sie Mieterhöhungen von 1000,-
Euro bekommen haben.
Uns macht es wütend, dabei zugucken zu müssen, wie unsere
Versorgungs-Infrastruktur zusammen bricht, weil Eigentümer den Hals
nicht voll genug kriegen können. Wir fordern eine Zweckentfremdungsverordnung auch für Gewerbe! Denn wir brauchen hier Kitas und Lebensmittelläden und keine weiteren Galerien, Cafés, Pizzerien und Bürogemeinschaften!
3. Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen
Ein weiteres Problem ist die massenhafte Umwandlung von Miet- in
Eigentumswohnungen. Immer mehr Häuser werden von Spekulanten aufgekauft,
entmietet, modernisiert, in Eigentumswohnungen umgewandelt und
gewinnbringend weiterverkauft. Aktuell trifft es die Reichenberger
Straße 114, die durch Berlin Aspire Real Estate in Eigentumswohnungen
umgewandelt und als Kapitalanlage vermarktet werden soll. Aber die
Mieter_innen wollen das nicht! Sie wohnen dort schon seit Jahrzehnten in
einer intakten und solidarischen Nachbarschaft. Das Haus wurde Mitte
der '90 mit öffentlichen Mitteln saniert. 80% der Kosten wurden als
Fördergelder vom Senat zugeschossen. Der Eigentümer bekam quasi eine
Wertsteigerung seines privaten Eigentums auf dem Silbertablett serviert.
Ursprünglich waren an diese Fördergelder Auflagen gebunden, wie
WBS-Belegungsbindung, 20 Jahre Mietpreisbindung und eigentlich auch eine
dauerhafte Anrechnung der Fördergelder auf die Miete nach BGB 558
Absatz 5. D. h. die Mieten in diesem Haus müssten aufgrund der
umfangreichen Fördergelder eigentlich immer unterhalb des Mietspiegels
liegen. Aber wen kümmert's? Die Eigentümer umgehen hier und da die
WBS-Bindung und die Gerichte hebeln mal eben Paragraphen aus. Eine
dauerhafte Anrechnung der Fördergelder käme ja einer Enteignung gleich,
so die Richter. Vergessen waren die hohen Summen, die die öffentliche
Hand den privaten Eigentümern schenkte um sie zur Sanierung und
Modernisierung ihrer heruntergekommenen Häuser zu animieren. Der
Stadtteil war so heruntergekommen, weil die Politik jahrelang eine
verfehlte Wohnungsbaupolitik betrieben hatte. Wenn man sich die
aktuellen Reden der Politiker anhört, ist offensichtlich: die Politik
hat bis heute nichts dazugelernt.
Und weil das alles noch nicht schlimm genug ist, lügt die SPD, wo sie
nur kann. Während Bausenator Michael Müller in der Presse lamentiert,
dass Berlin dringend eine Umwandlungsverordnung braucht, aber leider der
Koalitionspartner CDU blockiert, fegt Iris Sprangen, Sprecherin der
SPD, das Thema Umwandlungsverordnung von der Tagesordnung des
zuständigen Ausschusses im Abgeordnetenhaus. Dabei könnte die SPD mit
den Stimmen der Opposition im Abgeordnetenhaus eine
Umwandlungsverordnung beschließen. Aber die SPD will nicht! Denn die SPD
vertritt genauso wenig wie die CDU die Interessen der normal bis gering
Verdienenden in dieser Stadt. Uns bleibt deshalb nur ein Weg: unsere
Interessen selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb sind wir heute hier auf der Straße und fordern: Umwandlungsstopp jetzt sofort!"